Neubau eines Kunstharmoniums nach V. Mustel, Paris

Die Pariser Firma Mustel hat sich mit dem Kreieren des Kunstharmoniums einen weltweit anerkannten Ruf erarbeitet. Aus dem 1842 durch Alexandre-François Debain in Frankreich patentierten 'Vierspiel' wuchs mit sinnreichen Ergänzungen des Druckwindsystem ein enorm flexibles Konzertinstrument der durchschlagenden Zungen heran. Stilmerkmale des Kunstharmoniums sind: Die Teilung der Bass- und Diskantseite mittels einer getrennt agierende Windführung (Doppelexpression), zusätzliche Spiele wie ein enger 16´ & 32´. Ausschließlich doppelreihig bestückte Schwebungen von 2´ bis 16´. Diverse den Klang modulierende Einrichtungen auf die hinteren Spiele: pneumatisches Forte, Methaphone. Die Zungen weisen sich durch eine maximal akribische musikalische Ausgestaltung in technischer Manier auf, ergänzt durch ein komplexes Kanzellensystem zur unterstützenden Farb- und Grundtonpräsenz. Die Entwicklungszeit der Gattung des Kunstharmoniums umspann mehrere Jahrzehnte und kam erst unter Einbezug des sog. Jugendstilgehäuses dann vor dem II. Weltkrieg zum Stillstand. Die klanglich und charakterlich faszinierendsten Instrumente dürften in der Zeitspanne 1890- 1910 entstanden sein. Eine Kopie dieser Instrumente fertigte auch Johannes Titz (Löwenberg/Schlesien) in einer kleineren Auflage auf Betreiben des Berliner Verleger und Harmoniumhändler Carl Simon an. Der Dreh- und Angelpunkt waren für alle Hersteller die externe Produktion der durchschlagenden Zungen in höchster Qualitätsanforderung. Mit dem Erlöschen dieser Produktionen war die Rückkehr zu diesen Instrumenten bis dato verschlossen. Orgel- und Harmoniumbau bedienen sich vieler gemeinsamer Fähigkeiten und haben sich über Jahrzehnte und Länder hinweg immer gegenseitig beeinflusst. Technisch, klanglich, nicht zuletzt auch in der Komposition.
Unter dem Arbeitstitel 'Harmoni(um)sche Versuche' sollte diese umfassende Wissen wieder zurückgeholt werden. Wir haben viele Schriften und Aufsätze zu dieses Instrument. Was aber das fachliche und buchstäblich handwerkliche Wissen in den tiefen Ebenen der Baukunst betrifft, sind keine Spuren hinterlassen worden. Mit unserer guten Ausstattung an digital verknüpften CNC- und Werkzeugfräsmaschinen im eigenen Haus war der Ansatz geboren, sich in dieses Thema wieder einzuarbeiten. Moderne Technik schafft kein Musikinstrument, springt aber in den Teil der hochkomplexen Serientechnik und Wiederholgenauigkeit. Explizit bei Grundbauteilen der durchschlagenden Zungen.
Über drei Jahre hinweg wurden Instrumente von Mustel digital in allen Belangen erfasst und ausgewertet. Eine umfassende Materialfrage mit Werkstoffanalyse und Bruchuntersuchung an historischen Estève-Zungen war der Grundstein zum Baubeginn. Der Neubau eines solchen Instrumentes erfordert nicht nur das handwerkliche Geschick des Orgelbauers, es ist auch eine Erfahrung des Konstrukteurs und Zerspaners im Sondermaschinen- und Vorrichtungsbau von großem Nutzen. Eine filigrane Holzbearbeitung, die Feinmechanik und Holz- und Metall, die Herstellung einer kleinen Klaviermechanik zum Anschlagen von Zungen sind nur als ein kleiner Ausschnitt zu nennen. Das klingende Endprodukt fasst dann den Bau zusammen: Frei schwingende 494 individuell geformte Messingstreifen müssen zu einem geschlossen agierenden Orchester geformt werden. Von der großen 16´- Zunge, bis zur wenigen Hundertstel betragen haardünnen 4- Zunge.
Ein klingendes Möbel mit Kopf, Händen und Ohren erarbeiten, für uns Orgelbauer die Herausforderung schlechthin!
Markus Lenter.